Freitag, 19. Juli 2013

Die Ferien des “Monsieur tout le monde”. Von Johanna Möhring

Sommer in Frankreich – wenn man etwas typisch Französisches beschreiben müsste, dann das jährliche Ritual der ferienbedingten Völkerwanderung auf's Land, an's Meer oder in die Berge. Denn warum in die Ferne schweifen? So schön ist Frankreich, so viel hat es zu bieten, dass sich eine Reise in andere Länder fast nicht lohnt. Weiterhin verbringen 60 - 80% der Franzosen ihre Ferien zu Hause, gegenüber 30% der Deutschen. Zwei Monate entlässt die “École de la République” (Die Schule der Republik) ihre Schützlinge  – Zeit genug, um von dem oft strengen Ganztagsregiment zu verschnaufen. Aber nicht nur die Schüler atmen auf: Allerspätestens nach der Nationalfeier, dem Tag der Erstürmung der Bastille am 14. Juli und bis zum Schulbeginn in der ersten Septemberwoche verfällt Paris, die Schaltzentrale der Macht, in tiefen Dornröschenschlaf. Staatsverschuldung und Strukturreformen müssen warten. Das französische Sommerloch hat außer Präsidenten und Ministern in Badekleidung nicht viel zu bieten.

Wundervoll sind sie, diese Wochen außer Raum und Zeit, in denen Paris verlassen in der Sommerhitze liegt und sich scheinbar leise atmend von den Anstrengungen der ersten sechs Monate des Jahres erholt. Nur die vom Schicksal nicht mit den zur Reise nötigen Barmitteln Ausgestatteten (die Jungen, die Armen und zunehmend die Alten), sowie Touristen aus aller Herren Länder wandern, manchmal ein wenig verloren, durch die Strassen der Hauptstadt. Viel Platz gibt es auf einmal in der Metro und in den Parks; fasst könnte man das Gefühl bekommen, die Stadt gehöre einem selbst. Die Metropole bemüht sich nach Kräften, für die Daheimbleibenden ein tolles Sommerprogramm mit Freilichtkino, Lesungen und Konzerten auf die Beine zu stellen. Die staatlichen „Centres de loisirs“ (Freizeitzentren) empfangen täglich Kinder ab drei Jahren, deren Eltern arbeiten müssen, zu Spiel, Sport und Ausflügen, so dass auch die Nichtprivilegierten (ca. 5 von 10 Franzosen fahren gar nicht in den Urlaub, in Deutschland sind es nur 1 auf 10) ihren Sommer in guter Erinnerung behalten.
Sommerviertel-Festival für die Daheimbleibenden

Das  Recht auf bezahlten Urlaub wurde in Frankreich in den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts erstritten. Natürlich nimmt der französische Otto Normalverbraucher, “Monsieur tout le monde” sommers nicht acht Wochen lang Ferien (der gesetzlich festgelegte Jahresurlaub beläuft sich auf fünf Wochen). Der öffentliche und der private Sektor funktionieren auch zur Sommerzeit, in den Ferienorten boomt zudem die Tourismusbranche. Seit Jacques Tati 1953 in seinem sanft melancholischen Film “Les vacances de Monsieur Hulot” (Die Ferien des Monsieur Hulot) Frankreich zur Ferienzeit so ungemein treffend eingefangen hat, ist das Land längst von den Zwängen des modernen Lebens eingeholt worden. Auch im Urlaub fordern tyrannische Chefs Verfügbarkeit und Erreichbarkeit „dank“ moderner Kommunikationsmittel. 20% der Berufstätigen arbeiten zudem freiwillig in der Ferienzeit: Ein produktiver Moment, denn nur selten wird man von einem Telefonanruf aus der Konzentration gerissen .

Telefonterror am Strand - „Schalten Sie Ihr Handy an, Bouchard“
(copyright vouch.com)

Die lange Ferienzeit beruht, wie so vieles in Frankreich, auf Tradition. Eine Agrarnation, die das Land noch bis in die 1950er war, brauchte in den Sommermonaten alle verfügbaren Hände, um auf Feld und Hof zur Erntezeit anzupacken. Der Anteil der Landwirtschaft beträgt mittlerweile zwar nur noch 2-4 % des Bruttosozialprodukts, aber Tourismus- und Lehrerlobby verteidigen eisern diesen Besitzstand. Die lange Ferienzeit gerät jedoch zusehends aus sozialen Gründen in die Kritik. Kürzte man die Ferien, hätten Kinder mehr Zeit, die im Lehrplan festgelegten Ziele zu erreichen und könnten sich mehr ausserschulischen Aktivitäten widmen. Zudem benachteiligt die lange Pause gerade bildungsferne Schichten. Während zum Beispiel ein Henri, Sprössling einer wohlhabenden Familie im Sommer privatfinanzierten Englischunterricht aufgebrummt bekommt, kickt sein Kollege Mamadou mit dem berühmten „Migrationshintergrund“ stattdessen oft unbeaufsichtigt den Fußball über den Sportplatz.

Und doch, und doch... Wie vernünftig ist so eine Halbzeit-Pause im Jahr. Man lässt die Beine baumeln, ob nun vom Pier in Deauville oder von einer Seinebrücke. Die Zeit bleibt stehen. Wenn im September die Blätter von den Platanen fallen, wird unweigerlich die Schlagzahl hochgedreht, Paris wimmelt auf einmal wieder von Menschen. Ein paar Tage noch hält der Erholungseffekt an, dann hat der Alltag alle wieder. Und man tröstet sich mit der Planung des nächsten Urlaubs.